Prof. Dr. Kurt Siehr (Universität Zürich, Schweiz)
Der internationale Anwendungsbereich des UN-Kaufrechts (Grundlagen: Unmittelbare Anwendungsbereich).


I. Grundlagen

1. Allgemeines

Am 01.01.1988 ist das UN-Übereinkommen vom 11.04.1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf (1) (UN-WKG) auf vier Kontinenten für elf Staaten unterschiedlichster Wirtschafts- und Sozialstruktur in Kraft getreten (2). Seitdem haben weitere Staaten das Übereinkommen ratifiziert (3) oder werden es sehr bald tun (4). Damit löst das UN-Kaufrecht immer mehr das Haager Einheitliche Kaufrecht vom 01.07.1964 (EKG) (5) ab (Art. 99 III - VI UN-WKG) (6). Für alle Vertragsstaaten des UN-Kaufrechts, aber auch für Nichtvertragsstaaten stellt sich schon heute die Frage nach dem räumlich- persönlichen Anwendungsbereich des UN-Kaufrechts. Das UN-Kaufrecht ist - wie das Haager Einheitliche Kaufrecht - Einheitsrecht. Das bedeutet zweierlei: Zum einen kommt das UN-Kaufrecht in einem Vertragsstaat als sachrechtliches Spezialgesetz für viele internationale Warenkaufverträge zur Anwendung (7). Zum andern bestimmt das UN-Kaufrecht seinen räumlich - persönlichen Anwendungsbereich selbständig, und zwar teils unmittelbar (unten 2), teils mittelbar durch das Kollisionsrecht desjenigen Vertragsstaates, dessen Gerichte als Forum angerufen werden (unten 3).

2. Unmittelbare Anwendbarkeit nach Art. 1 I lit. a) UN-WKG

Nach seinem Art. 1 I lit. a) ist das UN-Kaufrecht anwendbar, wenn die Vertragsparteien ihre Niederlassung in verschiedenen Vertragsstaaten besitzen und sie die Anwendung des Übereinkommens nicht ausgeschlossen haben (Art. 6) (8). Liegt also ein Warenkauf vor. Der durch Art. 2 UN-WKG vom sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens nicht ausgenommen ist (9), oder ein dem Warenkauf nach Art. 3 I UN-WKG gleichgestellter Werklieferungsvertrag, so müssen folgende vier Voraussetzungen vorliegen: Niederlassung bzw. gewöhnlicher Aufenthalt der Parteien in verschiedenen Staaten; Offensichtlichkeit der Internationalität; die Staaten, in denen die Parteien ihren Sitz haben, müssen Vertragsstaaten des Übereinkommens sein; und fehlender vertraglicher Ausschluß des Übereinkommens.

a) Niederlassung in verschiedenen Staaten

Ein Kaufvertrag ist dann "international" im Sinne des UN-Kaufrechts, wenn die Vertragsparteien ihre Niederlassung (10) oder - mangels einer solchen - ihren gewöhnlichen Aufenthalt11 (vgl. Art. 10 lit. b UN-WKG) in verschiedenen Staaten haben. Hat eine Partei mehr als eine Niederlassung, so ist diejenige Niederlassung maßgebend, welche die engste Beziehung zu dem Vertrag und zu seiner Erfüllung hat, und zwar unter Berücksichtigung derjenigen Umstände, die vor oder bei Vertragsabschluß den Parteien bekannt waren oder von ihnen in Betracht gezogen wurden (Art. 10 lit. a UN-WKG). Wird also Ware bei der Hauptniederlassung bestellt, soll sie jedoch über die Zweigniederlassung im Staat des Käufers geliefert und bezahlt werden, so kann es auf diese Zweigniederlassung insbesondere dann ankommen, wenn ihr gegenüber Mängelansprüche geltend zu machen sind. Ist dies der Fall, so fehlt es an Niederlassungen in verschiedenen Staaten, und das UN-Kaufrecht kommt nicht zur Anwendung.

Anders als beim Haager Einheitlichen Kaufrecht bleibt die Internationalität eines Kaufvertrages auch dann bestehen, wenn die verkaufte Sache keine Staatsgrenzen passiert (Art. 1 I lit. a EKG), wenn Angebot und Annahme in demselben Staat ausgesprochen werden (Art. 1 I lit. c EKG). Das UN-Kaufrecht verzichtet absichtlich auf diese speziellen Einschränkungen (12). Es begnügt sich vielmehr mit einer allgemeinen Klausel über die Offensichtlichkeit der Internationalität und schütz dadurch die Parteien vor Überraschungen.

b) Offensichtlichkeit der Internationalität

Mangels Offensichtlichkeit der Internationalität ist das Übereinkommen nicht anzuwenden, wenn die Tatsache, daß die Parteien ihre Niederlassung in verschiedenen Staaten haben, "sich nicht aus dem Vertrag, aus früheren Geschäftsbeziehungen oder aus Verhandlungen oder Auskünften ergibt, die vor oder bei Vertragsabschluß zwischen den Parteien geführt oder von ihnen erteilt worden sind" (Art. 1 II UN-WKG). Diese Einschränkung soll die Parteien vor einer nicht vorausgesehenen Anwendung des UN-Kaufrechts schützen, weil die Parteien erst nach Vertragsabschluß erfahren, daß der Partner als "undisclosed feign principal" seine Niederlassung in einem anderen Staat hat und daß deshalb mit der Anwendung des UN-Kaufrechts zu rechnen ist (13). Wer z. B. im Inland ein Kraftfahrzeug kauft und nicht weiß, daß der Verkäufer seine Niederlassung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, bracht sich die Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts nicht entgegenhalten zu lassen. Dieser Ausschluß der Anwendbarkeit des Übereinkommens gilt sowohl für dessen unmittelbare Anwendbarkeit nach Art. 1 I lit. a) UN-WKG wie auch für dessen mittelbare Anwendung über das IPR des Forumstaates gemäß Art. 1 I lit. b) UN-WKG.

c) Vertragsstaaten

Haben die Parteien ihre Niederlassung bzw. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in verschiedenen Staaten, so ist weitere Voraussetzung, daß diese Staaten "Vertragsstaaten" des UN-Kaufrechts sind (14).

Für Teil II des Übereinkommens (Abschluß des Vertrages) ist es erforderlich, daß beide Staaten zum Zeitpunkt des Vertragsangebots Vertragsstaaten sind (Art. 100 I UN-WKG). Teil III des Übereinkommens (Wirkungen des Warenkaufs) dagegen kommt bereits dann zur Anwendung, wenn beide Staaten spätestens im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses Vertragsstaaten sind (Art. 100 II UN-WKG). Sofern also ein Staat bereits bei Vertragsangebot Vertragsstaate war, der andere es jedoch erst zwischen Vertragsangebot und Vertragsschluß wird, gelten vorbehaltlich des Art. 92 UN-WKG (Ausschluß von Teil II) für diesen Vertrag lediglich die Vorschriften des Übereinkommens über die Wirkungen des Warenkaufs.

Ob die Parteien zu den maßgebenden Zeitpunkten wußten, daß die Staaten Vertragsstaaten des UN-Kaufrechts sind, ist - wie in allen anderen Fällen der Geltung von Staatsverträgen - unerheblich (15). Artikel 1 II UN-WKG (Internationalität des Sachverhalts muß offensichtlich sein) gilt für diese Situation nicht und kann auch nicht entsprechend auf sie ausgedehnt werden; denn die ausdrücklich genannte Ausnahme bezieht sich auf falsche Vorstellungen über Tatsachen und nicht auf einen Rechtsirrtum über die Eigenschaft eines Vertragsstaates. Zwar kann ein solcher Rechtsirrtum recht leicht entstehen, da der Beitritt eines Staates zum UN-Kaufrecht häufig sehr verspätet bekanntgemacht wird. Jedoch würde die Entschuldigung eines solchen Irrtums das gesamte Intertemporale Recht der Staatsverträge ändern, also nicht nur hier. Auch in allen anderen Fällen müßte eine Korrektur der bisherigen Rechtssituation vorgenommen werden.

d) Fehlender Ausschluß durch die Parteien

Nach Art. 6 Halbs. 1 UN-WKG können die Parteien die Anwendung des Übereinkommens ausschließen. Ein solcher Ausschluß kann formlos erfolgen; denn eine Form ist hierfür nicht vorgesehen. Welche Wirkung dieser Ausschluß auf die mittelbare Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts hat, ist noch zu erörtern; unten bei II 1 b (3) und IV 2 b.



   Anmerkungen:


1 United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods, UN-Dok. A/CONF. 97/18, Annex I, abgedr. in: Official Records 178, RabelsZ 51 (1987) 134/135, öst. BGBI. 1988/96 (S. 1530), Int. Leg. Mat. 19 (1980) 688, Commercial Laws of Europe 3 (1980) 465, Rev. dr. unif. 1980 I 60; Bianca/Bonell 683 (dort jeweils alle amtlichen Fassungen sowie deutsche und italienische Übersetzungen); Honnold 469; Jayme/Hausmann 115 (Teilabdruck); Schlechtriem, Einheitliches UN-Kaufrecht 118/119; ders., Uniform Sales Law, Beilage; Wiener Übereinkommen (oben N.*) Beilage.

2 Es handelt sich um Ägypten, Argentinien, die Volksrepublik China, Frankreich, Italien, Jugoslawien, Lesotho, Sambia, Syrien, Ungarn und die Vereinigten Staaten von Amerika; vgl. hierzu Bonell, l'entrata in vigore della Convenzione di Vienna sulla vendita e les sue conseguenze nella prassi delle contrattazioni commerciali internazionali: Dir. comm. int. 2 (1987) 415-427; Hensen, Nieuw vermogensrechtlijke IPR - wanneer in Nederland?: W. P. N. R. 1988, 689-692 (691 f.); Herber, Gedanken zum Inkrafttreten des VB-Kaufrechtsübereinkommens: RIW/AWD 1987, 340-342; Magnus, Das UN-Kaufrecht tritt in Kraft: RabelsZ 51 (1987) 123-129; "Das UNICITRA-Einheitskaufrecht ist in Kraft getreten": öst. Wirtschaftsrechtliche Blätter 1988, 69; "China, Italy and United States Ratify Convention for International Sale of Goods - Convention to Enter into Force on 1 January 1988", Press Release from the United Nations, New York, 11 December 1986: J. World Trade L. 21 (1987) 121. Allgemein hierzu vgl. S. G. Zwart, The New International Law of Sales - A Marriage Between Socialist, Third World, Common, and Civil Law Principles: N. C. J. Int. L. 13 (1988) 109-128.

3 Seit dem in Klammern angegebenen Tag in Kraft in Finnland (01.01.1989: Trb. Monatsbericht März 1988, 3); Mexiko (01.01.1989: Diario Oficial de la Federacion vom 17.03.1988, S. 3); Österreich (01.01.1989: öst. BGBI. 1988/96 [S. 1572 ohne Angabe eines Vorbehalts, ebenso "UN-Kaufrecht im Nationalrat beschlossen": ÖRWirt. 1988, 8]); Schweden (01.01.1989: SFS 1988 Nr. 844); Australien (01.04.1989: Trb. Monatsbericht a. a. O., 4).

4 Zu Kanada vgl. Ziegel, Canada and the Vienna Sales Convention: Can. Bus. L. J. 12 (1987) 366-375; zu den Niederlanden vgl. Hessen (oben N. 2) 692; für die Schweiz vgl. Krapp, Die Abkommen der Vereinten Nationen über den Kauf und über die Verjährung beim internationalen Warenkauf: ZSR N. F. 103 (1984) I 289-317 (317).

5 Einheitliches Gesetz vom 01.07.1964 über den internationalen Kauf beweglicher Sachen, BGBI. 1973 II 892, U. N. T. S. 834, 184, abgedr. in: RabelsZ 29 (1965) 166/167 und 210/211; ferner in: H. Dölle, Kommentar zum Einheitlichen Kaufrecht (1976) 777; Honnold 543; Jayme/Hausmann 113; P. Schlechtriem/U. Magnus, Gesetzessammlung zum Internationalen Kauf beweglicher Sachen (1987) 51. Vgl. hierzu das "Übereinkommen vom 01.07.1964 zur Einführung eines Einheitlichen Gesetztes über den internationalen Kauf beweglicher Sachen", BGBI. 1973 II 886, U. N. T. S. 834, 169; ebenfalls in: Dölle (diese Note) 805, und bei Jayme/Hausmann 110; Schlechtriem/Magnus (diese Note) 36.

6 Vgl. z. B. zur italienischen Kündigung des EKG zum 31.12.1987, Gazz. Uff. Nr. 45 vom 24.02.1987, S. 32, und BGBI. 1987 II 231.

7 Wo kein internationaler Warenkauf im Sinne des UN-Kaufrechts vorliegt (z. B. beim Verkauf einer im Ausland befindlichen Sache zwischen Parteien mit Niederlassung im Inland), muß das autonome IPR das anwendbare Vertragsstatut bestimmen; vgl. hierzu De Nova. Wann ist ein Vertrag "international"?, in: Konflikt und Ordnung, FS Ferid (1978) 307-323.

8 Zu hieraus entstehendenn möglichen Konventionskonflikten vgl. Carbone 521 f. bzw. 72 f., und Fadlallah, Le projet de convention sur la vente de marchandises: Clunet 108 (1979) 755-769 (759 N. 25).

9 Ausgeschlossen sind Kaufverträge, die über gewisse Gegenstände (Wertpapiere, Zahlungsmittel, Schiffe, Luftfahrzeuge, elektrische Energie) oder für bestimmte Zwecke (Konsumentenkäufe) oder durch gewisse Verfahren (Versteigerung, Zwangsvollstreckung, gerichtliche Maßnahmen) abgeschlossen werden.

10 Der Begriff der "Niederlassung" wird nicht definiert. Nach dem Sinn und Zweck des UN-Kaufrechts (Regelung des Typus "internationaler Warenkauf") besteht eine Niederlassung nur doch, wo eine Partei mit einer gewissen Beständigkeit (Also Ausschluß z. B. von Messeständen und mobilen Verkaufszentralen) und mit einer gewissen Handlungsbefungnis (daher Ausschluß z. B. von Auslieferungslagern und Repräsentanzen zur Weiterleitung von Bestellung) tätig wird; vgl. hierzu Bianca/Bonell (-Jayme) Art. 1 UN-WKG Bem. 2.3; Schlechtriem, Einheitliches UN-Kaufrecht 29 f.

11 Der Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" wird vom UN-Kaufrecht ebenfalls nicht umschrieben. Er ließe sich als tatsächlicher Mittelpunkt der Geschäftsführung definieren.

12 Honnold 78 (Rz. 40).

13 Commentary on the Draft Convention on Contracts for the International Sale of Goods, Prepared by the Secretariat, UN-Dok. A/CONF. 97/5 (14.03.1979) Art. 1 Bem. 9, abgedr. in: Official Records 14-66 (15), Honnold 78 (Rz. 41).

14 Zu den Vertragsstaaten (Stand: 01.01.1988) siehe oben N. 2.

15 So für das EKG bereits OLG Frankfurt 09.02.1979, bei: Schlechtriem/Magnus Art. 1 EKG